Persönlichkeit „Der Andere in mir“

Im New Yorker erschien einmal ein Cartoon, auf dem ein Mann in einem Sessel abgebildet war; er stößt ärgerlich einen riesigen Dominostein um, der seine Bewegungsfreiheit auf der linken Seite einschränkt, und sagt sich dabei offensichtlich: «Endlich!» Natürlich sieht er nicht, dass der Dominostein den nächsten Dominostein umkippt und dieser den nächsten und so weiter und dass die lange Schlange der Dominosteine kreisförmig zu seinem Sessel zurückführt und ihm schließlich von rechts auf den Kopf purzeln wird.

Der Andere in mir – Persönlichkeiten setzen ihre Gaben für die Bedürfnisse anderer ein und sorgen sich um deren Gesund­heit, Ernährung, Erziehung und Wohlergehen. Sie vermitteln ein Maß von Annahme und Wertschätzung, das anderen helfen kann, an den eigenen Wert zu glauben. Der Andere in mir – Menschen können großzügig teilen und «ihr letztes Hemd» geben. Sie stehen anderen bei, wenn sie Leid, Schmerz oder Konflikte durchmachen müssen. Diese Nächstenliebe und Verfügbarkeit haben allerdings auch Schattenseiten, die auf den ersten Blick nicht zu erkennen sind: Sie sind gefallsüchtig und brauchen übertrieben viel Dank und Wertschätzung. Viele ha­ben in ihrer Kindheit nur bedingt Liebe erfahren; die Zunei­gung wichtiger Bezugspersonen musste durch Wohlverhalten erkauft werden.

Die vermeintlich «schöne» Kindheit hindert diese Menschen daran, wütend oder traurig darüber zu sein, dass man sie ständig zu übertriebenem Wohlverhalten animierte. Manche erinnern sich auch, dass sie schon früh das Gefühl hatten, eine Stütze für die emotionalen Bedürfnisse der Mutter sein zu müssen, insbe­sondere, wenn die Mutter Konflikte aus ihrer eigenen Vergan­genheit verdrängte. Und so gaben sie sich verständnisvoll und hilfsbereit und stellten eigene Bedürfnisse zurück; noch heute haben sie den Anspruch, lieb und hilfreich zu sein und sind in der Regel davon überzeugt, dass sie das auch sind.

Doch Menschen, die zu viel geben, haben ebenso wie Men­schen, die immer nur nehmen, eine Schattenseite, denn irgend­wann klagen die «Geber» Rückzahlung ein. Die «Nehmer» ent­wickeln Aggressionen gegen die ewig Gebenden, weil sie von ihnen zu Schuldnern gemacht werden. Zunächst verwöhnt und umsorgt ein Der Andere in mir-Typ andere Menschen ungebe­ten und ungefragt; wenn das den anderen zu lästig oder zu eng wird und sie auf Distanz gehen, anstatt diese «Liebe» zu erwi­dern, fühlt er sich betrogen und ausgenutzt.

Diese Menschen halten fortwährend das Thermometer in die Luft, um die soziale Temperatur und Windrichtung zu mes­sen, weil sie ihre Identität darauf aufbauen, wie andere ihnen gesonnen sind und auf sie anspringen. Sie sind Teddybären – sie schmusen und knuddeln gern. Sie reden gern über Beziehungen und über die Liebe. Viele lesen gerne Liebesromane, weil das Leben ohne romantische Liebe nur halb so schön wäre. Oder sie chatten stundenlang im Internet und nähren dadurch die eigene Illusion, mit vielen Menschen vernetzt oder in romantischem Kontakt zu sein.

Der Andere in mir-Typ lebt also übermäßig die Wir-Symbiose, hat Angst vor dem Verlust des anderen – und Angst, allein zu sein. Er hält sich vielfach beim anderen statt bei sich auf, sehnt sich nach Verschmelzung. Die Selbstfürsorge bleibt unterentwickelt. Der Druck, den er dabei gegen sich selbst rich­tet, vermittelt sich an seine Umwelt und äußert sich in jenem subtilen Druck auf andere, der sich so schwer fassen lässt.

Sobald er das Gefühl hat, dass er zu kurz kommt, braucht er einen Sündenbock, um Schuld zuweisen zu können. Es kann die Hölle sein, sich seinen Hass zuzuziehen. Er kann genauso inten­siv hassen, wie er lieben kann. Dann wird er ungemein grausam und brutal gegen sich und andere.

Mehr dazu in meinem Buch „Heilung aus eigener Kraft“

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